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Erleben wir einen Sonnenuntergang, dann erleben wir eigentlich zweierlei. Wir erleben den Sonnenuntergang, wie ihn Menschen seit Jahrtausenden erleben. Die Sonne taucht am Horizont ab, und – Gott sei Dank – taucht sie zuverlässig am nächsten Morgen wieder am anderen Ende auf. Und wir sehen, dass wir uns täuschen. Denn wie wir wissen, verschwindet die Sonne nicht. Und es grenzt auch an kein Wunder, dass sie so zuverlässig wieder auftaucht. Sie bewegt sich ja kaum. Es ist die Erde die sich um sie bewegt. Und es sind wir Menschen, die – Kraft der Einbildung – die Sonne unter den Horizont schieben und sie wieder auftauchen lassen.Wir bewegen uns also tagtäglich in einem unzureichend bestimmten Zwischenraum zwischen Wirklichkeitserfahrung und Wirklichkeitsmodell. Und leider fehlen verlässliche Vermessungspunkte. Die Verfahren, durch die wir versuchen, unsere Welt zu gliedern, zu vermessen und uns gefügig zu machen, erzeugen beständig kleine Fehler, die aber erst im Streiflicht, im Licht der aufgehenden Sonne, zur Irritation werden, Schatten werfen, blinde Flecken aufdecken und Deckungsungleichen offenbaren.
Diesen Gedanken, der sich auch in Franz Xaver Baiers „Geometrie schneidet ab“ (FXB, Raum, S.13f) findet, wenn er sich gegen Descartes Zweifeln an der Wirklichkeit, gegen ein Denken des „Masterplans“ wendet (Vgl. FXB, Raum, S.14), möchte ich meiner Arbeit beiseite stellen. Als eine Möglichkeit der Raumerweiterung.
Die Modellform, zunächst virtuell entworfen, geht vom karierten Papier aus, von Reihen uns Spalten von Quadraten, deren Ecken ich in den Raum verschoben habe. Dieses Modell habe ich aus Pappe gefaltet und in Gipsmodelle kopiert. Die beiden Reliefs sind dabei ebenso spiegelsymmetrisch wie eigenständig, da sie von zwei unterschiedlichen Pappvorlagen stammen. Diese Modelle wurden mit Silbergelatine beschichtet, im Streiflicht belichtet und letztlich entwickelt.
Der ganze Prozess der Herstellung ähnelt in gewisser Weise der Herstellung von Prototypen, von Ingenieursarbeit. Zumindest vom virtuellen Modell bis zum fertigen Gussrohling. Kopien von Kopien von Kopien dieses virtuellen Idealmodells. Ich habe dabei stets versucht, Fehler zu vermeiden, möglichst präzise zu arbeiten, möglichst der Idealform nahe zu bleiben, möglichst keine Handschrift sichtbar werden zu lassen, also alles Menschliche – vor allem mich selbst – aus der Arbeit zu verbannen. Und trotzdem sind die Objekte voll von kleinen und größeren Fehlern. Es lässt sich erkennen: Der Prozess ist ein menschlicher. Das tut wohl.
Und das offenbart sich auch in der letzten Schicht, im Entwurf eines Systems, das sich in sich selbst abbildet ohne dabei in sich selbst aufzugehen. Indem sich nämlich die Oberfläche und die sich darin abbildende Form gegeneinander verschieben, sich wechselseitig verstärken oder auch auslöschen. Und zwar in einer Weise, die es einem Betrachter schwer macht, die einzelnen Faktoren wieder – vor dem geistigen Auge – ineinander aufzulösen. (Aufleitung statt Ableitung!, Vgl. FXB, Raum, S.9)
Darin – in der Abweichung, in den blinden Flecken der Arbeit – liegt meines Erachtens die Chance zum Entdecken dessen, was sonst deckungsgleich erscheint, was ineinander aufgeht, homogen wirkt. Die Chance, die Irritation mitzunehmen. Stets in der Hoffnung, dass sich dieses Entdecken über die Kanten und Rahmen der Objekte hinaus ausdehnt. Denn Sehen und Verstehen, das sind eigentümliche Verwandte. („Unser Sehen bedeutet traditionell ein Projizieren“ FXB, Raum, S.44)